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10. Mai 2016

„Werden gemeinsamen Grenzschutz brauchen“

Europa in der Flüchtlingskrise – was ist da passiert? Eine historische Wende? Gemeinsamer Grenzschutz?

JOSCHKA FISCHER: Ich kann Ihnen sagen, was passiert ist! Millionen von Flüchtlingen in Syrien saßen ohne Hoffnung in Lagern. Die materielle Unterstützung durch das UN-Flüchtlings-Hochkommissariat wurde gekürzt, weil die Mitgliedsstaaten zum Teil ihre Beiträge nicht bezahlt haben. Die Menschen hatten keine Hoffnung mehr, Assad warf Fassbomben auf die Bevölkerung. Und so setzte sich ein Flüchtlingsstrom Richtung Europa in Bewegung. Das war alles seit Langem absehbar. Aber wen hat das groß interessiert? Wir gingen ja alle davon aus: Syrien – tragisch, schlimm, furchtbar … aber Gott sei Dank weit weg. Jetzt müssen wir plötzlich feststellen, dass das doch unsere regionale Nachbarschaft ist.

Wie geht es politisch weiter?

FISCHER: Es gibt keine Maßnahme, die die Situation kurzfristig ändert – es sei denn, man zieht wie Viktor  Orbán in Ungarn  Zäune und Grenzen hoch. Aber wenn Deutschland zumacht, wird Österreich zumachen, Slowenien und Kroatien werden folgen. Griechenland und Mazedonien wären die Letzten, die das vermutlich nicht könnten, und von dort würde die Destabilisierung des Balkans beginnen. Ich hielte das für hoch gefährlich. Es würde am Ende zu mehr Flüchtlingen und mehr Elend beitragen.

Sie haben kürzlich in einem Interview sogar Angela Merkel gelobt …

FISCHER: Merkel und Faymann haben die Flüchtlinge ja nicht eingeladen, sondern die waren schon da. In Budapest drohte eine humanitäre Katastrophe. Was hätte man machen sollen? Wollte man da Polizei einsetzen, Schlagstock, Wasserwerfer? Gegen Frauen, Kinder, Alte, Behinderte? Ich glaube nicht, dass die österreichische oder deutsche Regierung das auch nur zwei Tage durchgehalten hätte. Es war eine humanitäre Notfallentscheidung, die richtig war.

Welche dauerhafte Perspektive gibt es für eine konsistente Flüchtlingspolitik?

FISCHER: Das Dublin-Abkommen war für uns in Zentraleuropa auf sehr bequemen Lügen aufgebaut. Weder nach Österreich noch nach Deutschland kann ein Asylwerber kommen, ohne dass er nicht schon zuvor ein sicheres EU-Land betreten hat. Da waren wir fein raus. Die Italiener und Griechen haben die Hauptlast getragen. Ich erinnere mich noch an die Bilder, als Italiens Ministerpräsident Renzi seine Kollegen in Brüssel händeringend zur Solidarität aufforderte – aber nichts ist passiert! Also, wir werden einen gemeinsamen Grenzschutz brauchen, daran führt kein Weg vorbei. Und einen entsprechenden Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge. Und daneben auch eine Türe für legale Zuwanderung. Das wird dauern, bis das in der EU durchgesetzt wird, aber ich bin optimistisch. Und wir werden sehr viel mehr Geld und diplomatische Initiative brauchen, um uns in den Konfliktregionen zu engagieren. Denn Wegschauen ist keine Lösung. Wenn wir uns nicht beizeiten um die Konflikte kümmern, dann kommen die Konflikte früher oder später in unserem Wohnzimmer an. Das ist die Erfahrung dieses Sommers. Somit ist ein Grenzschutz unabdingbar. Alle EU-Staaten müssen für diesen Grenzschutz einstehen und sorgen.

Sehen Sie, aus der Not heraus, auch eine Lösung unter Einbeziehung von Baschar al-Assad? Oder auf jeden Fall nur ohne ihn?

FISCHER: Mit Assad wird eine friedliche Lösung sehr, sehr schwer. Es geht nicht nur um Assad, es geht auch um die Alawiten. In einem Bürgerkrieg werden wir immer eine Lösung finden müssen, in der beide Seiten eine Zukunft sehen. Der Hegemonialkampf zwischen Saudi- Arabien und Iran, die religiöse Komponente zwischen Schiiten und Sunniten, die Türkei, Israel – alle diese Akteure spielen dort eine Rolle. Und jetzt noch die USA und Russland. Ich sehe keine Alternative zu dem Versuch, eine diplomatische Lösung zu erreichen. Und die Europäer sind da aufgefordert, aktiv zu werden.

Kann man Assad motivieren, von sich aus das Feld zu räumen?

FISCHER: Weder die Iraner noch die Russen sind mit Assad als Person untrennbar verbunden. Da geht es um Einflussnahme. Für den Iran etwa ist eine zumindest nicht iranfeindliche Regierung in Damaskus von entscheidender Bedeutung. Auch für Russland geht es um eine machtpolitische Konstellation. Und darauf wird sich der diplomatische Prozess  konzentrieren.

Kann sich die EU mit Putin verständigen oder bedarf es hier jedenfalls der USA?

FISCHER: Das geht nicht ohne die USA.

Kommen  wir zur Wirtschaft. Weite Teile Europas haben verfestigt hohe Arbeitslosigkeit. Wo bleibt die grüne Ökonomie?

FISCHER: Ich sehe nicht, dass es ein Defizit an ökologischem Strukturwandel gibt. Die Frage grüner Technologien ist heute überall von zentraler Bedeutung, etwa bei Maschinenbau, Automobilerzeugung und Energienutzung. Aber Europa hat die Finanzkrise immer noch nicht wirklich überwunden.

Ist Deutschland zu erfolgreich für Südeuropa?

FISCHER: Nein, die Differenzen sind struktureller Natur. Mit Einführung des Euro hat sich der Mittelmeerraum eher deindustrialisiert, während nördlich der Alpen die Industrialisierung weiter vorangeschritten ist. Eine wachstumsorientierte Politik im gesamten Euro-Raum wäre dringend geboten. Die Sparpolitik halte ich jedenfalls nicht für zielführend.

Angesichts des Klimawandels stellt sich die Frage, ob wir uns klassisches Wachstum überhaupt noch ökologisch leisten können.

FISCHER: Man muss sich nicht auf klassische Wachstumsziele fokussieren. Bei der Pariser Klima- Konferenz wird es darum gehen, in CO2-Reduktion und CO2-neutrale Infrastruktur zu investieren. Technologisch geht es in Richtung ökologisches Wachstum.

Aber ökonomisch offenbar nicht. In Deutschland laufen die Kohlekraftwerke, Erdöl ist billig wie nie.

FISCHER: Das stimmt. Trotzdem werden sich die erneuerbaren Energien durchsetzen.

Eine Deindustrialisierung Europas fürchten Sie nicht?

FISCHER: Nein, beim besten Willen nicht. Meine Sorge ist die unterschiedliche Entwicklung von Nord- und Südeuropa.

Was sagt der VW-Abgasskandal über das Gewinnstreben in der Wirtschaft?

FISCHER: Das Verhalten derer, die die Verantwortung dafür tragen, war extrem kurzsichtig und idiotisch. So etwas zu tun, anzuordnen und zuzulassen – da muss man schon mehr als ein Brett vor dem Kopf haben. Der Schaden wird enorm sein.

Strukturelle oder systemische Ursachen sehen Sie nicht?

FISCHER: Ich glaube, es war ein Fehler, weltweit die Nummer eins werden zu wollen. Aber ich würde da nicht generalisieren. Andere große deutsche Autobau-er sind nicht betroffen.

Diese Gewissheit haben Sie? In der Bevölkerung herrscht eher die Stimmung „Così fan tutte“ – alle machen es so.

FISCHER: Kann sein, dass man das am Biertisch so sieht, aber das ist nicht die Instanz.

 

Vielen Dank für das Interview!

Weitere Informationen zu Joschka Fischer und dem Grenzschutz erhalten Sie hier: http://www.esa100.de/redner/joschka-fischer.html

 

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